Die
Brautwerbung und Verlobung
In
der Erzählung aus den Tausendundein
Nächten beginnt die Schilderung mit
der Brautwerbung des Sultans um die Tochter
seines Wesirs Schems ed-Dîn. Der Sultan
wird jedoch von dem Wesir abgewiesen, da
dieser entsprechend dem arabischen Heiratsideal
seine Tochter mit dem Sohn seines Bruders
verheiraten möchte. Erzürnt über
die Abweisung ordnet der Sultan die Vermählung
der Wesirstochter mit dem letzten seiner
Stallknechte an, einem Mann, der auf Brust
und Rücken bucklig ist. Hier wird deutlich,
daß nach islamischem Recht der Ehevertrag
gegen den Willen der Braut und in ihrer Abwesenheit
abgeschlossen werden kann. Obwohl im neuen
algerischen Familienrecht die Frau nun das
Recht hat, ihren Willen gegen eine Verheiratung
beim Abschluß des Vertrages dem Kadi
kundzutun, ist ihr das weiterhin kaum möglich,
da nach wie vor die Sitte besteht, den Heiratsvertrag
mit dem Vormund der Frau (in der Regel ihr
Vater) in ihrer Abwesenheit abzuschließen.
In Tunesien hingegen, dem Maghrebland, in
dem das Familienrecht dem europäischen
weitestgehend angeglichen wurde, müssen
beide Ehepartner vor dem Standesbeamten erscheinen
und ihrem Einverständnis zur Ehe Ausdruck
geben.
Trotzdem
geschieht es noch recht häufig, daß sich
das Brautpaar vor dem Abschluß des
Heiratsvertrages noch nie gesehen hat. In
einer Gesellschaft, in der es Tradition ist,
daß die Menschen nach Geschlechtern
getrennt leben und ein Mann meist keine Frauen
außerhalb seiner Familie kennt, ist
es verständlich, daß es immer
noch sehr oft die Mütter sind, die sich
für ihre Kinder den passenden Ehepartner
suchen.
Daß sich
das Paar vor der Heirat nicht kennt, muß sich
aber nicht nachteilig auf die ehelichen Beziehungen
auswirken. Soziologische Untersuchungen zeigten,
daß diese nach altem Brauch “arrangierten
Ehen” größere Chancen haben,
harmonisch zu verlaufen, als die “Liebesheiraten”,
die seit etwa zwei Jahrzehnten immer häufiger
werden, da sich die Möglichkeiten des
Kennenlernens für beide Geschlechter
(z.B. während des Schul- und Universitätsbesuches
oder am Arbeitsplatz) vervielfältigt
haben. Denn durch den Umstand, daß das
junge Paar wegen der großen Wohnungsnot
zumeist im Elternhaus des Mannes lebt, hat
die junge Frau – früher wie heute – nach
der Hochzeit viel mehr Kontakt zur Schwiegermutter
als zu ihrem Ehemann. Die Aufteilung der
Gesellschaft in eine separate Frauen- und
Männerwelt bringt es mit sich, daß die
junge Ehefrau die meiste Zeit zusammen mit
den Frauen der Familie ihres Mannes verbringt.
Zudem ist der Einfluß einer Mutter
auf ihren Sohn in jedem Fall größer
als der, den seine Frau auf ihn ausüben
kann, weil das Prinzip der Achtung den absoluten
Gehorsam gegenüber einem älteren
Familienmitglied erfordert. Dadurch wird
das gute Einvernehmen zwischen Schwiegermutter
und -tochter unabdingbar für das Gelingen
der Ehe.
Auch
bei den sogenannten Liebesheiraten werden
die traditionellen Formen der Brautwerbung
gewahrt. In diesem Fall wird der junge Mann
seine Mutter bitten, mit der Mutter seiner
Auserwählten in Verhandlungen einzutreten.
Wenn beide Mütter dem Ehewunsch ihrer
Kinder nichts entgegensetzen, erreichen die
Verhandlungen das offizielle Stadium und
werden ab diesem Zeitpunkt von den Männern
der beiden Familien fortgeführt. Die
erfolgreiche Brautwerbung wird mit dem Ehevertrag
abgeschlossen, der in beiden Häusern
durch ein kleineres Fest besiegelt wird.
Nach
dem Abschluß des Ehevertrages beginnen
die Vorbereitungen für das eigentliche
Hochzeitsfest. Diese Zeit entspricht unserer
Verlobungszeit. Sie dauert in der Regel zwischen
einem und anderthalb Jahren. Die Braut bereitet
in dieser Zeit ihre Aussteuer vor. Sie besteht
entsprechend den regionalen Traditionen aus
gewebten und bestickten Decken sowie Kleidungsstücken.
Der Bräutigam darf nun seine Braut in ihrem Haus
besuchen. Früher machten diese Besuche, möglichst
unvorhergesehen, die Eltern. Dabei sollten die hausfraulichen
Tugenden der jungen Frau getestet werden. Heute kommt
der junge Mann in den Genuß all der Köstlichkeiten,
die das junge Mädchen, natürlich mit Hilfe
seiner Mutter, herstellt. Es werden wirklich keine
Kosten und Anstrengungen gescheut, um die Eltern oder
den jungen Mann von den Qualitäten seiner zukünftigen
Frau zu überzeugen. Sind die Familien sehr liberal,
darf der junge Mann am Nachmittag mit seiner Braut
ausgehen. |